Darf man heute noch (nach Paris) verreisen und auf den Terror pfeifen?
Gedanken . Wanderlust & Citydust

Darf man heute noch verreisen und auf den Terror pfeifen?

Wer in der Salzburger Blogger Szene unterwegs ist, der kennt den provokanten Ü30-Blog „Gefährlich Ehrlich“ und an Anlehnung an den Blog habe ich dieses Mal auch meinen Titel gewählt. Denn die Frage stellte sich mir einfach seit Tagen und geistert in meinem Kopf herum.

Warum? Einfach weil es mich bewegt und mich seit dem 6. Juni beschäftigt. Klar, ich springe jetzt mal schnell auf ein beliebtes Thema auf (her mit den Klicks): Terror & Anschläge. Aber das darf man doch, oder nicht? Und wer jetzt einen längeren Text erwartet der hat recht und liest weiter. Wer aber blutrünstige Bilder erwartet, der wird gleich mal enttäuscht sein. Aber alle die es interessiert, lesen meine Gedanken, nachdem ich durch eine – sagen wir blöde Situation – gestolpert bin und mir Fragen stelle und Antworten suche.

Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben!

Also mich hat es direkt getroffen. Nein glücklicherweise nicht im wahrsten Sinne des Wortes, das war wer anderer, aber doch nur gut 100m hinter mir. Reiner Zufall, dass ich Anfang Juni in Paris war. Ich freue mich immer auf meine Lieblingsstadt, manchmal bin ich eben auch beruflich dort. Reiner Zufall, dass ich um rund 16:30 vor Notre-Dame unterwegs war. Wie das Leben halt so spielt… und genau so lebte und lebe ich noch immer: Lass dir von keinem Fanatiker was vorschreiben und ich mache, dass was mir gut tut.

Klar machst du dir selbst Gedanken, wenn jeden Tag in irgendeinem Eck von Europa irgendein Typ (ich gendere mal nicht, sind ja selten weibliche Wesen die bis unter die Zähne bewaffnet herumziehen) mit irgendeinem Mittel versucht Menschen umzubringen. Darf ich eigentlich nach Paris fliegen oder wird es mich beim nächsten Mal erwischen? Und wenn ich dort bin, darf ich auf die Champs-Élysées gehen? Oder werde ich angezündet, überfahren oder erschossen. Wie sieht es aus, darf ich überhaupt dort hin, wo mehr als 20 Menschen zusammen sind? All diese Fragen die einem durch den Kopf geistern und verzweifelt eine Antwort suchen. Klar keiner will vorzeitig ins Gras beißen! (Aber was ist vorzeitig?) Aber auch niemand will sein Leben im Hochsicherheitsbunker verbringen. Also machen wir weiter und das ist gut so!

Wir gehen auf Konzerte, zu Fußballspielen, in Vergnügungsparks, besuchen Museen und Sehenswürdigkeiten, sind in der ganzen Welt unterwegs und nehmen jeden einzelnen Moment in uns auf und sammeln schöne Erinnerungen! Denn ich lasse mir mein Leben von niemanden und schon gar nicht von irgendwelchen Fanatikern vorschreiben!

Die Polizei sichert Notre-Dame in Paris, nach dem Anschlag vom 6. Juni 2017
Die Polizei sichert Notre-Dame in Paris, nach dem Anschlag vom 6. Juni 2017

Und dann geht es rund!

Wie gesagt, da gehe ich zur falschen Zeit über den falschen Platz. Stimmt eigentlich nicht, es war nichts falsch daran! Es war wie so oft zu vor. Ich komme vor dem Rathaus aus der Unterwelt der Métro und trabe über den Place de l’Hôtel-de-Ville Richtung Seine. Wie immer geht ein leichter Wind und die warme Frühsommer-Sonne ist so was von angenehm. Dieses Mal ist der Platz aber nicht frei, sondern überall stehen Absperrgitter herum und behindern die Menschen. Nur damit keiner mit dem Auto auf den Platz rast. Ich denke mal kurz darüber nach, was wäre wenn jetzt wirklich einer der Wahnsinnigen kommt. Ach Blödsinn, wer ist so verrückt und will hier einen Anschlag verüben? Wie immer ist die Ampel rot und die Menschenmenge huscht und hetzt zwischen den fahrenden Autos rüber zur Pont d’Arcole. In Paris ist einfach nie Zeit eine rote Ampel abzuwarten. Und schon bin ich auf der Île de la Cité. Gehe ich auf der linken Seite und quäle mich durch Touristen und den passenden Shops oder lieber die rechte Seite entlang des Krankenhauses zwischen Reisegruppen durchtraben? Heute nehmen wir mal die Geschäftszeile, einfach aus Lust und Laune. Alles ist wie immer, ich rieche die Crêpes und Gauffres, es hängen die üblichen I <3 Paris Pullis und Shirts herum und die Touristen sind fleißig am Souvenir shoppen.

Notre-Dame-de-Paris im Frühsommer ist einfach immer schön.
Notre-Dame-de-Paris im Frühsommer ist einfach immer schön.

Da liegt schon Notre-Dame vor mir, die Kathedrale beeindruckt mich immer wieder. Gleichzeitig so wuchtig und fragil. Wie immer ist viel los auf dem Platz davor, eine endlos lange Menschenschlange wartet geduldig auf den Besuch der Kirche. Neu sind die Granitblöcke, dass nur ja kein Auto durch die Menschen brettert. Da blitzt er auf, der Gedanke an einen Attentäter und  ist aber genau so schnell wieder weg. Du schaust ein paar Polizisten in die Augen und ignorierst die Soldaten auf dem Platz. Die gehören ja schon jahrelang zum Straßenbild und ich habe mich daran gewöhnt und fühle mich sicher. Jetzt durch einen Menschentraube durchgehen und ich höre jemanden hinter mir schreien. Ist ja nicht ungewöhnlich, da sind hunderte Menschen und einer schreit immer. So und jetzt endlich auf die kleine Pont au Double, mein Bistro schon im Blick und in Gedanken bei einem Espresso. Und plötzlich, von einer Sekunde auf die andere bricht die Hölle los.

Ich höre einen lauten Knall, das Gehirn läuft auf einmal auf Hochtouren: Das war doch ein Schuss? Und zur Bestätigung ein zweiter noch danach. Und dann erlebst du wie schnell Menschen sein können. Glücklicherweise nicht alle, aber ein Teil war auf einmal unterwegs und das sowas von schnell. Es dauert schon ein paar Momente bis du realisierst was wirklich los ist. Aber dann mal ab durch die Mitte und schauen das du wegkommst. Ja so habe ich den Anschlag vom 6. Juni 2017 in Paris erlebt und irgendwie war es surreal.

Darf ich jetzt einen Espresso trinken?

Der Blick aus dem Bistro nach dem Anschlag.
Der Blick aus dem Bistro nach dem Anschlag. So leer war die Gegend noch nie.

Ja darf ich! Jetzt war es mir mal wichtig runter zu kommen und wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Dann mal alle verständigen, die wissen wo man ist, damit sich niemand zu große Sorgen macht. Eigentlich wusste ich erst danach was wirklich passiert war. So richtig bekommst du es gar nicht mit.
Und dann, wie schaut’s aus? Wollte ich nicht einen angenehmen Abend in meinem Lieblingsbistro verbringen? Ein wenig in einem Graphic Novell lesen und einfach den lauen Abend genießen. Darf ich das jetzt überhaupt?

Ja ich darf es und ich denke jeder soll es. Hey schau rüber zur Kathedrale. Die Sonne scheint, es ist warm, es ist super den Moment zu genießen. Mist aber da ist niemand, alle sind weg. Äh… sind von der Polizei mal weggeschickt worden. Der Platz, das Viertel ist abgesperrt, irgendwer ist sicher verletzt worden und die Leute in der Kirche dürfen auch nicht raus. Also darf ich trotzdem hier sitzen und den Café bestellen?

Ja und ich will es sogar. Nennt mich ignorant und egoistisch, aber ich bin am Leben und will mir die schönen Momente nicht von irgendeinem Fanatiker vermiesen lassen.

Darf man jetzt zum Alltag übergehen?

Ja und Nein! Wenn wir uns immer weiter einigeln und noch mehr Gitter, noch mehr Granitblöcke, noch mehr Absperrungen und noch noch noch mehr Sicherheitsmaßnahmen ergreifen, dann haben wir eh keinen Alltag mehr (oder einen ziemlich beschissenen). Letztes Jahr konnte ich noch den Platz unter dem Eiffelturm besuchen. Ja kann ich heute auch noch, aber erst nach einer kompletten Securitykontrolle. Ist das nicht Wahnsinn? Ja ist es – aber von beiden Seiten. Die Fanatiker verbreiten ihren Wahnsinn und terrorisieren uns ihm wahrsten Sinne. Ach pfeif‘ auf die paar Verletzten und Toten! Nein ich meine es nicht pietätlos, sondern aus einer anderen Sicht. Es könnten viel mehr Menschen umgebracht werden und jeder einzelnen ist einer zu viel. Aber es reicht ein Angriff mit einer Machete, einem Hammer oder einen PKW und schon schränken wir uns noch weiter ein. Das ist für mich der wahre Terror! Kein Eintritt mehr in die Kirchen ohne Kontrolle, öffentliche Plätze werden abgesperrt, in Supermärkten wird gleich mal kontrolliert. Aber nicht die bösen Jungs, sondern alle quer durch. Wir lassen uns den Terror aufzwingen und opfern unsere erkämpften Freiheiten.

Fotoshooting nach dem Anschlag vor Notre-Dame in Paris
Fotoshooting nach dem Anschlag auf dem menschenleeren Platz vor Notre-Dame in Paris

Der Platz vor Notre-Dame war ein paar Stunden nach dem Anschlag noch immer menschenleer. Nein die ersten Mutigen kommen zurück und nutzen ihn für den schönen Moment und für Erinnerungen. Also gehen wir zum Alltag über und leben, lieben, lachen, weinen und sind einfach glücklich. Aber wir müssen ja nicht nur ein paar Minuten oder auch Stunden nach so etwa gleich wieder weitermachen wie davor.

Mich hat es schon berührt und erschreckt, wieder zurück zur Métro zu gehen. Soll ich genau schauen, wo was passiert ist? Darf man Fotos machen? Nein darf man nicht! Darum gibt es auch keine Bilder hier, die „irgendwas“ zeigen. Ich denke, dass manches nicht fotografiert werden muss und wenn doch, nicht überall gezeigt werden muss. Aber normalerweise ist der Platz voller Leben, die Bistros brummen, du siehst müde aber beeindruckte Touristen, Menschen die lachen, Pärchen bei einem Glas Wein im Bistro, einfach das volle Leben an einem lauen Frühsommerabend, aber heute…

Die rue d'Arcole ist nach dem Anschlag wie ausgestorben
Die rue d’Arcole ist nach dem Anschlag wie ausgestorben

Heute ist da nichts! Ein paar ruhige und in sich gekehrte Menschen sind noch unterwegs, ein paar Absperrbänder der Polizei flattern noch im Wind und erinnern an den Anschlag. Und das war’s! Sie haben es wieder geschafft. Alles wie ausgestorben und unser Alltag ist verschwunden. Aber das ist gar nicht so schlimm. Nein man darf nicht immer sofort zum Alltag übergehen. Ein Moment des Innehaltens muss schon sein. Der persönliche Moment vielleicht bei einem Café und der gesellschaftliche Moment, wo mal keine Geschäfte gemacht werden.

Darf man jetzt noch verreisen?

Der Nullpunkt vor Notre-Dame
Der normalerweise belagerte Nullpunkt vor Notre-Dame nach dem Anschlag.

Ja darf man! Verdammt hören wir doch auf uns zu Tode zu fürchten. Tanzen wir auf den Plätzen, Lachen wir jeden an, der uns begegnet und lassen uns nicht unser Leben nehmen. Ich bin einfach nicht bereit, nicht mehr in ein Bistro zu gehen. Ich bin noch nicht bereit nur mehr in Salzburg zu bleiben. Ich will einfach noch hunderte Konzerte in Bataclan, in La Cigalle, in Zenith, in der Olympiahalle in München, in der Stadthalle in Wien oder am Residenzplatz in Salzburg oder sonst wo hören, sehen und genießen.

 

Ist der Nullpunkt erreicht oder sind wir schon darüber hinweg? Ach pfeif darauf! Es wird noch schlimmer werden, das ist sicher. Die einen denken sie können nur mit Gewalt was erreichen. (Hat übrigens schon wer einen Tatsachenbericht über die 72 Jungfrauen, das Paradies oder die anderen Wohltaten bekommen?). Die anderen denken, das kann man nur mit mehr Kontrolle verhindern. Habe ich mehr Angst vor den Attentätern oder mehr vor dem Big-Brother-Verhalten unserer Politker?

Konzert von Tove Lo in La Cigalle, Paris im März 2017
Konzert von Tove Lo in La Cigalle, Paris im März 2017

Ich pfeif auf beide! Die einen sollen sich in die Luft sprengen wo sie wollen! Es kann mach eh überall erwischen, die Anschläge beschränken sich ja nicht mehr auf die Großstädte. Die anderen sollen mich halt überwachen. Nein, ich denke nicht das es egal ist. Aber irgendwann werden wir oder vielleicht erst unsere Kinder diese Politiker mit nassen Fetzen verjagen und dann ist der Überwachungsspuk wieder vorbei. Bis dahin (wann/wo/wie auch immer das Ende sein wird) werde ich leben und das in vollen Zügen!

Ja, man darf verreisen!
Ja, man darf den Terror ignorieren!
Ja, du darfst einfach leben und das mit aller Kraft und allem Glück!

Feuerwerk am Nationalfeiertag beim Eiffelturm in Paris
Feuerwerk am Nationalfeiertag beim Eiffelturm in Paris

Ja, man darf Erinnerungen sammeln!

 

0 comments
  1. Andrea Fagerer
    Andrea Fagerer
    22. Juni 2017 um 11:16

    Ja, das darf man! Clemens, ich bin total deiner Meinung!
    „Tu, was dir gefällt!“, sag ich mal! Und: Es darf nicht alles in den (sozialen) Medien so breit getreten und aufgebauscht werden – wenn was passiert ist!!!

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  2. Gudrun
    Gudrun
    20. August 2017 um 16:21

    Ich habe noch gut die Worte meiner Freundin in Erinnerung. Sie lebt in Paris und hat natürlich Ängste ausgestanden als ihre Tochter am 13.November 2015 in der Nähe Bataclan unterwegs war. „Sie können uns nicht alle umbringen“, hat Sophie am Telefon gemeint und damit hat sie verdammt recht. Ich lasse mir meine Reiselust von ein paar Fanatikern jedenfalls nicht verderben…

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